28.8.2019 Reflexion

Bedenkliche Tendenzen in der Schweizer Asylpolitik

In der breiten Bevölkerung ist das kollektive historische Gedächtnis recht kurz. Zu kurz, um schleichende gesellschaftliche Veränderungen wahrzunehmen. Dies zeigt sich zum Beispiel bei der Verschärfung der Asyl- und Ausländergesetze.

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Besorgniserregende Trends

Was Ende 1980ger-Jahre noch undenkbar war, wird heute von einem grossen Teil der Gesellschaft als normal angesehen: 1. Unbescholtene Menschen werden ins Gefängnis gesteckt. 2. Solidarität wird zunehmend kriminalisiert. 3. Seit 1. März 2019 müssen Asylsuchende, die neu in die Schweiz kommen, ihr Asylverfahren abgeschottet von der Zivilbevölkerung in Lagern, den so genannten Bundesasylzentren, abwarten. 4. Junge sich gut inkulturierende Asylsuchende, die eine Lehre begonnen hatten, müssen diese abbrechen, sobald sie einen abweisenden Asylentscheid erhalten. Offiziell redet der Bund von Integrationsförderung, faktisch wird das Zusammenleben von Einheimischen und Neuangekommenen ständig erschwert.

1. Illegalisierung nicht anerkannter Flüchtlinge

Noch vor 20 Jahren hätte es als Skandal gegolten, wenn jemand, der kein Verbrechen begangen hatte, bis zu fünfeinhalb Jahre lang ins Gefängnis gesteckt werden konnte. Heute passiert das Menschen, die aus ihrem Land geflohen sind, in der Schweiz aber nicht als Flüchtlinge anerkannt werden. Erhalten sie keine provisorische humanitäre Aufnahme, werden sie mit dem Befehl zur Ausreise aus der Schweiz konfrontiert. Einige werden mit Gewalt auf Sonderflügen in ihr Herkunftsland oder, im Falle von Dublin, in ein anderes europäisches Land abgeschoben. Manche können nicht gewaltsam zurückgeschafft werden, weil die Schweiz kein Rückübernahmeabkommen mit dem betreffenden Herkunftsland hat. Wenn diese nun ihre eigene Rückkehr als zu gefährlich oder mit zu viel Leid verbunden einschätzen, bleiben sie auch ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz.

So entstehen in der Schweiz politisch «produzierte» Sans-Papiers. Nach Artikel 12 der Bundesverfassung erhalten sie zwar die vorgeschriebene Nothilfe. Doch statt sie von der schlimmsten Not zu bewahren, werden sie damit schikaniert, um sie zu einer «freiwilligen» Ausreise zu drängen. Allein im Kanton Zürich leben zur Zeit etwa 650 Menschen in dieser Situation. Sie bekommen die CHF 8.50/Tag für Essen, Kleidung, Hygieneartikel, Mobilität, nur, falls sie zweimal täglich in einem vorgegebenen Zeitfenster in dem ihnen zugewiesenen «Ausreisezentrum» unterschreiben, sind dort also eigentlich angebunden. Diese Zentren gleichen allerdings eher Lagern; z.T. unterirdische Militäranlagen, abbruchreife Häuser oder Container an abgelegenen Orten. Das von gewinnorientierten Unternehmen angestellte Betreuungspersonal entscheidet, ob, wann und zu welchem Arzt jemand gehen darf, obwohl es in den seltensten Fällen die nötige berufliche Qualifikation dazu hat. Wo auch immer, selbst in den stickigen Wänden dieser Unterkünfte, können sie jederzeit wegen illegalem Aufenthalt verhaftet werden. 18 Monate kann jemand im Abschiebegefängnis warten, plus 12 Monate Strafe für illegalen Aufenthalt, plus 3 Jahre, wer eine territoriale Einschränkung, d.h. ein Verbot, das Gebiet der Gemeinde oder des Bezirks zu verlassen, missachtet. So summieren sich unter der gegenwärtigen Gesetzes- und Verordnungslage 5 1/2 Jahre Gefängnis für Menschen, deren einziges Vergehen eine fehlende Aufenthaltserlaubnis ist. Diese Gefängnisaufenthalte gibt es aber nicht am Stück, sondern immer wieder für 3, 6, oder 12 Monate. In den übrigen Zeiten leben diese Menschen mit der ständigen Angst, wieder gefasst zu werden. Diese Zermürbungstaktik ist das Resultat einer ganzen Reihe von Asylgesetzverschärfungen. Vergessen geht dabei, welche gesundheitlichen Schäden das jahrelange Leben in einer solchen psychosozialen Extremsituation nach sich zieht. Mehr dazu siehe hier.

2. Kriminalisierung der Solidarität

Die zunehmende Illegalisierung von Flüchtlingen in der Schweiz ist nur ein Aspekt dieser problematischen Tendenzen. An den Grenzen Europas wie auch in Europa, wo legales Einreisen für flüchtende Menschen nicht mehr möglich ist, werden Menschen und Organisationen, die sich für die Rettung von Flüchtlingen einsetzen, an ihrem Einsatz zunehmend gehindert und zunehmend des Menschenhandels beschuldigt. So im Mittelmeer, in den Alpen – auch an Schweizer Grenzen. Diese Kriminalisierung der Solidarität, so irrational sie auch sein mag, folgt einer gefährlichen Logik für die ganze Gesellschaft. Anstatt engagierte Leute zu ermutigen, das Beste von sich zu geben – das heisst, Solidarität als Mitverantwortung der Bürger im Namen des Gemeinwohls der gesamten Gesellschaft gerade durch die Unterstützung der Schwächsten auszuüben –, schreckt die heutige legalistische Entwicklung die Bürger davor zurück, zugunsten der Schwachen und Marginalisierten aktiv zu werden.

Anni Lanz, eine Frau, die sich seit mehreren Jahrzehnten für die Unterstützung von Asylsuchenden, Mitbegründerin des Solidaritätsnetzwerks in Basel, einsetzt, wurde am 6. Dezember 2018 vom Bezirks-Gericht in Brig verurteilt, weil sie einen jungen afghanischen Flüchtling aus Domodossola zurück in die Schweiz holen wollte, um ihn vor Kälte und Hunger zu schützen. Junge Deutsche, die sich für die Rettung von Flüchtlingen vor dem Tod im Mittelmeer einsetzen, werden vom italienischen Gericht der Zusammenarbeit mit Schmugglern beschuldigt. Im Sommer 2018 wurde einem evangelischen Pastor in einem Waadtländer Dorf vorgeworfen, einem jungen abgewiesenen Asylsuchenden Obdach angeboten zu haben.

Solidarité sans frontières sammelt in einer breiten Koalition Unterschriften für die Petition «Solidarität ist kein Verbrechen!» Die Petenten schreiben: Solidarität ist kein Verbrechen. Sie soll ermutigt und nicht geahndet werden. In einer Zeit, in der sich immer mehr Geflüchtete wegen der fremdenfeindlichen Politik europäischer Regierungen in grosser Unsicherheit und Not befinden, müssen Hilfeleistungen – unabhängig von Papieren – eine Selbstverständlichkeit sein. Als Parlamentarier*innen werden Sie bald die Gelegenheit haben, der humanitären Tradition der Schweiz und Personen wie Paul Grüninger und Carl Lutz, auf die wir zu Recht stolz sind, die Ehre zu erweisen: Stimmen Sie der parlamentarischen Initiative 18.461 «Solidarität nicht mehr kriminalisieren» zu, welche eine Anpassung von Art. 116 AIG in dem Sinn verlangt, «dass Personen, die Hilfe leisten, sich nicht strafbar machen, wenn sie dies aus achtenswerten Gründen tun». Sie können diese Petition (bis spätestens 31 Juli 2019) über diesen Link unterschreiben.

3. Abschottung der Asylsuchenden in den neuen Bundesasylzentren

Bis Ende Februar dieses Jahres kamen die Asylsuchenden nach den ersten paar Wochen, die sie in einem so genannten Empfangs- und Verfahrenszentrum (EVZ) abzuwarten hatten, in Asylunterkünfte, die von Gemeinden verantwortet wurden. Das waren in der Regel eher kleine Strukturen und der Kontakt zur engagierten Zivilbevölkerung war relativ einfach. In den neuen Bundesasylzentren, welche für 250-450 Personen gebaut wurden, herrscht eine Atmosphäre wie in den EVZ. Doch nun für das ganze Asylverfahren bis zu 140 Tagen. Beschränkte Ausgangszeiten. Nach jedem Ausgang werden die Insassen einer Leibesvisitation unterzogen. Kein Zutritt für engagierte Freiwillige, es sei denn, sie werden als Mitglieder einer Organisation akkreditiert, welche sich zu enger Zusammenarbeit mit dem Staatssekretariat für Migration (SEM) verpflichtet. Eine kritische Begleitung durch die Zivilgesellschaft ist also nicht möglich. Das ist um so bedenklicher durch die gefährdete Unabhängigkeit der unentgeltlichen Rechtsvertretung. Diese wird zwar als Plus dieses neuen Asylverfahrens dargestellt, doch muss es angesichts der kurzen Einsprache- und Rekursfristen eher als ein Element der Verschleierung von anderen Zielen interpretiert werden. Zu beobachten ist bei diesem nun so genannten beschleunigten Asylverfahren, dass vor allem die negativen Asylentscheide schneller gefällt werden, während Geflüchtete mit mehr Chancen auf einen positiven Entscheid länger und isolierter auf eine Antwort warten müssen. Anstatt vom ersten Tag ihrer Ankunft in ihren Integrationsbemühungen gefördert zu werden, werden nun die Asylsuchenden bis zum Abschluss ihres Asylverfahrens an einer wirklichen Ankunft in der neuen Gesellschaft gehindert. Die Tatsache, dass die Schweizerische Flüchtlingshilfe im April dieses Jahres ein 12-seitiges Positionspapier zu den Mindeststandards für die Unterbringung von Asylsuchenden herausgeben musste, zeigt, wie wichtig ein waches Auge der Zivilgesellschaft auf diese neu geschaffene Lagerwirklichkeit ist. Andere Gruppierungen stellen die Lager-Politik grundsätzlich in Frage, weil sie einen zu tiefen Eingriff in die Menschenwürde der Flüchtlinge darstellt.

4. Zerstörte berufliche Integration

Ein weiteres Zeichen dieser besorgniserregenden Trends betrifft junge abgewiesene Asylsuchende, die eine bereits angefangene Lehre abbrechen müssen. Lehrkräfte resümieren diese Situation wie folgt: «Unsere Lage ist absurd und in gewisser Weise sinnlos. Die Lernenden befinden sich in der paradoxen Situation, in der eine Behörde von ihnen verlangt, sich zu integrieren, und eine andere ihnen sagt, das Land zu verlassen.» Sie können diese Petition unterzeichnen.

Welche Freiheit, die nicht auf Solidarität mit den Schwächsten gründet?

Diese vier Beispiele führen vor Augen, wie sich die Schweizer Asylpolitik in eine Richtung entwickelt, die dem humanitären Anspruch der ethischen Grundlagen der Schweizer Verfassung nicht mehr gerecht wird. Unzählige Dokumentationen zeigen, wie sich die schrittweise Verschärfungen der Asyl- und Ausländergesetze auf die einzelnen Personen und die Gesellschaft auswirken. Die so genannte Verteidigung des «christlichen Abendlandes» führt sich selbst ad absurdum, wo sie ihre eigenen christlichen Grundprinzipien der universalen Solidarität mit den Schwachen verrät und meint, sie könne ein vom Rest der Welt abgeschottetes Europa errichten. Das Netzwerk migrationscharta.ch ruft mit einer theologischen und ethischen Argumentation zu einem neuen politischen Denken auf, welches die Migration nicht als von den anderen globalen Herausforderungen isoliertes Problem darstellt, sondern Flüchtlinge zuerst einmal als PartnerInnen auf der Suche nach gerechten Verhältnissen in den Blick nimmt.