17.4.2022: Ostergedanke zum neuen Text der migrationscharta.ch

Die Ostererfahrung erlaubt keine zurechtgestutzte Hoffnung

Wenn unser Entscheiden und Handeln nicht getragen ist von der Hoffnung, dass das gute Leben allen Menschen zusteht, geschieht es allzu schnell, dass es nur für einen Teil organisiert wird. Die anderen werden abgeschrieben. Die Fremden, wenn sie nicht in unser Schema passen, abgeschoben, gepushbackt. Die

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Wegkreuz beim Habrütispitz, Foto: Christoph Albrecht SJ

Realpolitik wird manchmal dargestellt als die Kunst des Machbaren. Aber wo kommen wir hin, wenn das so genannte Machbare weit von dem entfernt ist, was wir für ein menschenwürdiges Zusammenleben brauchen? Was gibt es für Alternativen? Sind sie alle unrealistisch? Also illusorisch, utopisch, unpraktisch, weltfremd?

Wenn unser Entscheiden und Handeln nicht getragen ist von der Hoffnung, dass das gute Leben allen Menschen zusteht, geschieht es allzu schnell, dass es nur für einen Teil organisiert wird. Die anderen werden abgeschrieben. Die Fremden, wenn sie nicht in unser Schema passen, abgeschoben, gepushbackt.

Die folgenden Gedanken der migrationscharta.ch zu sechs Säulen für ein menschenwürdiges Zusammenleben – lokal und global – fordern zu einem praktischen Bedenken der universalen Geschwisterlichkeit auf. Sie sollten in jedem Fall den Horizont jeder Realpolitik bilden:

1. Menschenwürde und Menschenrecht

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ So beginnt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948. 193 Länder sind Mitgliedstaaten der UNO und anerkennen damit diese Erklärung. Dieser Konsens ist die Basis für Gerechtigkeit und Frieden zwischen den Völkern, zwischen allen Mehr- und Minderheiten, gesellschaftlichen Gruppierungen, Religionen, Weltanschauungen und politischen Interessengruppen innerhalb einer Bevölkerung. Menschenwürde und Menschenrecht lassen sich auch in allen Religionen theologisch kohärent herleiten.

2. Recht und Gerechtigkeit

Was gerecht wäre, erkennen wir am deutlichsten, wo unser Gerechtigkeitsempfinden durch die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit verletzt wird. Die Rechtsprechung wie auch deren Umsetzung erreichen im besten Fall nur annähernd, was die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in ihren 30 Artikeln an Gerechtigkeit fordert. Dennoch gehört es zu jedem Rechtsstaat, den Zugang zu den dort formulierten Grundrechten allen Menschen zu gewähren, die in seinem Einflussbereich leben. Auch theologisch lässt sich keine Gottesrede rechtfertigen, die den Anspruch der Gerechtigkeit ignoriert.

3. Teilhabe und Solidarität

Die erste Erfahrung eines Menschen ist, in Beziehungen hinein geboren zu werden. Zugehörigkeit zu Familie, Gemeinschaft, Gesellschaft ermöglicht die Entwicklung der menschlichen Person. Jeder Mensch hat das Recht, zur menschlichen Gemeinschaft dazuzugehören. In der darin erlebten Solidarität wird die universale Geltung der Gerechtigkeit als Menschenpflicht konkret: Jeder Mensch steht vor dem Anspruch, Anderen das menschenwürdige Dasein ebenso zu ermöglichen, wie er es für sich selbst erhofft. Und die Stärke einer Gesellschaft misst sich an ihrem Umgang mit den Schwächsten. Die biblische Botschaft rückt die Opfer jeglicher gesellschaftlicher Ausgrenzungsmechanismen ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

4. Eigenständigkeit und Selbstentfaltung

Die in der Selbstentfaltung gewonnene Eigenständigkeit ist niemals losgelöst von der Solidarität mit den Anderen. Gerade in verlässlichen Bindungen erfahren wir das Gewicht der Freiheit in Verantwortung für unsere persönlichen Entscheidungen wie auch für unser politisches Verhalten. In einem Rechtsstaat sind die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Institutionen darauf ausgelegt, die Menschen vor knechtenden Abhängigkeitsverhältnissen zu schützen, bzw. sie daraus zu befreien und ihre Eigenständigkeit zu fördern. Im Zusammenspiel zwischen Eigenständigkeit und gemeinsamer Verantwortung auf allen Ebenen spielt das Prinzip der Subsidiarität eine zentrale Rolle. Die biblische Grunderfahrung ist der Anruf Gottes, der aus der Sklaverei heraus in Freiheit und Mitverantwortung führt.

5. Bewegungsfreiheit und Niederlassungsfreiheit

Zugang zu den Grundrechten ist nicht allerorts möglich. Die UNO Flüchtlingskonvention von 1951 mit dem ergänzenden «Protokoll über die Rechtsstellung von Flüchtlingen» von 1967 ist bis heute zwar das wirksamste Instrument, um von den 149 Unterzeichner-Staaten verbindlichen Schutz für Geflüchtete einzufordern. Sie geht aber nicht genug weit, um die universale Geltung der Grundrechte umzusetzen. Jeder Mensch hat das Recht, einen Ort zu suchen, wo er Zugang zu den Grundrechten findet und wo er reale Möglichkeiten hat, an der Herstellung dieses Zugangs für alle mitzuwirken. Dazu braucht es die Anerkennung der Bewegungsfreiheit und der Niederlassungsfreiheit. Vertreibung, Flucht und Suche nach neuer Heimat gehören zur biblischen Urerfahrung – Schutz und Aufnahme der Fremden sind zentrales Gebot.

6. Willkommenskultur und Heimatschutz

Im besten Fall wird der neue Ort zu einer neuen Heimat, in der ein geflüchteter oder ausgewanderter Mensch nicht nur die Möglichkeit zum konstruktiven Mitwirken hat, sondern von der aus er auch ein Engagement für Frieden und Gerechtigkeit in seiner ursprünglichen Heimat eingehen kann. Das Bewusstsein der universalen Geschwisterlichkeit schreit nach gleicher Freiheit und gleichen Rechten für alle Menschen und führt zu einem Verständnis für den Wert der Heimat, das die globale Perspektive und die lokalen Bedürfnisse nicht gegeneinander ausspielt. „Gott schütze unsere Heimat“ – weltweit!