Flüchtlingspolitik, Menschenrechte, Ethik, Verantwortung
Die aktuelle migrationsethische Debatte in Deutschland und anderen europäischen Ländern dreht sich u.a. um die von Max Weber geprägte Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Zuweilen werden diese ethischen Grundhaltungen gegeneinander ausgespielt, um einer Politik der globalen Mitverantwortung eine Politik der regionalen Verantwortung entgegen zu halten. Wolf-Dieter Just legt dar, wie gefährlich und kurzsichtig eine solche Gegenüberstellung ist, und stellt ihr eine Perspektive aus theologisch-ethischer Sicht entgegen.
Zum Artikel von Wolf-Dieter Just, Menschenrechte für Flüchtlinge, Seiten 250-263, in: ZEE, 61. Jahrgang, Heft 4, Oktober bis Dezember 2017, online verfügbar auf:
Gedanken zur Migrationscharta}
von Christoph Albrecht SJ (erschienen am 4.9.15 in Aufbruch online)
Die Migrationscharta fordert freie Niederlassung für alle und heisst Flüchtlinge willkommen in einer solidarischen Gesellschaft! Vielen scheint diese Forderung unrealistisch. Sie weckt Ängste, weil damit Vorstellungen von Übervölkerung und Identitätsverlust verknüpft werden. In der Folge hat sich die politische Diskussion um die Asylpolitik in den letzten Jahren so sehr polarisiert, dass weite Kreise der Öffentlichkeit nur noch in Schlagworten sprechen, gar nicht mehr fähig sind, einander wirklich zuzuhören und neue Gedanken und Ansätze aufzunehmen.
Vor diesem Hintergrund geht es der Migrationscharta in den bewusst knapp gehaltenen Abschnitten zu den Grundsätzen Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität sowie zu den Grundrechten Asyl, Niederlassungsfreiheit und Existenzsicherung nicht um politische Maximalforderungen, sondern um ein grundlegend anderes Denken. Dies ist nötig, weil der Streit um den Grad der Abschottung keine zukunftsfähige Perspektive bietet. Im Gegenteil, der Missbrauch des Flüchtlingsdramas als Wahlkampfthema lässt vielmehr unser Denken und Fühlen als Gesellschaft und Einzelne verrohen. Alt Bundesrätin Ruth Dreifuss brachte es kürzlich auf den Punkt: «Indem die Politik versucht, unser Land immer unattraktiver für andere zu machen, wird die Schweiz auch immer weniger gemütlich für uns selbst.» So schliesst auch die Migrationscharta mit dem Hinweis, dass die besten Grundsätze und -rechte nur sinnvoll umgesetzt und gelebt werden können, wenn sie eingebettet sind in eine Willkommenskultur als Basis für eine neue Migrationspolitik. weiter...
Ethik und Politik}
Zum Verhältnis von Ethik und Politik in einem Rechtsstaat empfiehlt sich die Lektüre von Pierre Bühler:
«Im Rechtsstaat ist jeder Bürger, jede Bürgerin dem Staat in Loyalität (Pflichttreue) verbunden; diese verpflichtet den Bürger, die Bürgerin, den Staat in seinen Prinzipien und Entscheiden zu respektieren. Diese Loyalität, eine ethische Forderung, ist die Grundlage jenes gegenseitigen Vertrauens, das für das gute Funktionieren der Demokratie unabdingbar ist. Aber sie kann stets nur eine kritische Loyalität sein: Sind einzelne Bürger und Bürgerinnen der Auffassung, der Staat weiche von seinen eigenen Prinzipien ab, dann haben sie das Recht, ihm seinen eigentlichen Auftrag in Erinnerung zu rufen. Nötigenfalls kann der Protest sogar in Handlungen Ausdruck finden, die als illegal beurteilt werden, die aber eine höhere, auf den obersten Rechtsprinzipien beruhende Legitimität für sich beanspruchen. Darauf gründet das Widerstandsrecht, das in der Französischen Erklärung der Menschenrechte von 1789 zum Grundrecht erklärt wird (»Widerstand gegen Unterdrückung» in der Liste der Grundrechte in Artikel 2).
Hier könnten wir, in Anlehnung an John Rawls (Eine Theorie der Gerechtigkeit, Fankfurt a.M. 1979), auch von zivilem Ungehorsam sprechen. So kann der einzelne beispielsweise im Namen des Gesetzes gegen eine ungerechte Gesetzesanwendung oder einen ungerechten Entscheid protestieren oder aber, gestützt auf die Verfassung, die Erklärung der Menschenrechte oder die obersten Rechtsprinzipien, gegen ein ungerechtes Gesetz protestieren. Dieser Tatbestand liegt dann vor, wenn der einzelne unter Berufung auf die Verfassung gegen ein Ausnahmegesetz im Asylbereich opponiert und die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes aufzeigt (das gilt beispielsweise für das Gesetz über Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, worüber in der Schweiz im Dezember 1994 abgestimmt worden ist), oder wenn er abgewiesene Asylbewerber in einer Privatwohnung oder in anderen (etwa kirchlichen) Räumlichkeiten beherbergt, um sie – zumindest vorläufig – dem Vollzug eines als ungerecht empfundenen Abschiebungsentscheides zu entziehen.»
Pierre Bühler, Ethische Kriterien des Widerstandes, Seite 25 in: Kirche und Asyl, Muriel Beck Kadima, Jean-Claude Huot (Hgg), Studien und Berichte aus dem Instituts für Sozialethik 51,Institut für Sozialethik des SEK und Schweizerische Nationalkommission Justitia et Pax, Bern 1996, Seiten 22-30. Ganzer Text online verfügbar auf: https://www.kirchenbund.ch/sites/default/files/publikationen/pdf/ISE-51.pdf